Ein Tag mit Essstörung

Vorwort

Ich glaube, dass viele, die mich online kennen, gar nicht so recht nachvollziehen können, wie die Essstörung bei mir wirkt bzw. aussieht. Ich werde auch selten dazu etwas gefragt, vielleicht aus Rücksicht, weil man mir nicht zu nahe treten oder mich nicht triggern möchte. Vielleicht aber auch, weil man selbst ähnliche Probleme hat und nicht daran erinnert werden oder sich nicht damit auseinandersetzen will.

Da ich heute Nacht mal wieder nicht schlafen konnte, habe ich beschlossen, einen Einblick in einen typischen Tag bei mir zu geben. Ich möchte aber betonen, dass nicht jeder Tag so aussieht, das wäre zum Glück weder finanzierbar noch dauerhaft aushaltbar. Aber es ist ein Tag, der so oder ähnlich leider nicht selten vorkommt.

Ich möchte darauf hinweisen, dass der folgende Text u.U. triggern könnte. Wenn du da Gefahr läufst solltest du evtl nicht weiter lesen.


00:00 Uhr – Ein neuer Tag beginnt. Hoffnung. Vorsätze.

Es ist Mitternacht. Ich liege wach im Bett. Der Kopf spielt wieder sein perfides Spiel und spült mir ein Gedankenthema nach dem anderen vor. Der Magen ist voll, ich habe meinen Plan wieder nicht geschafft heute. Und trotzdem kreisen meine Gedanken schon wieder ums Essen bzw. darum, nicht zu essen. Morgen wird alles anders, denke ich mir. Morgen bleibe ich im Plan. Ich halte durch. Ich schaffe das. Der neue Tag soll endlich mein Wendepunkt sein. Ich setze mich noch mal für eine Stunde an den Rechner und schreibe meinen Essenplan für Morgen. Ich nehme mir vor, mein Leben endlich in den Griff zu bekommen. Ich will doch nur frei sein.

03:27 Uhr – Schlaflosigkeit und erste Rückschläge

Ich bin aufgestanden. Schlaf ist unmöglich. Mein Kopf ist laut, mein Herz schwer. Die Stille der Nacht schreit mich an. Ich krame neben meinem Bett, ich hatte doch noch Schokolade übrig. Nur ein Bissen, rede ich mir ein. Etwas Süßes, Beruhigendes. Der neue Tag beginnt ja erst wenn ich morgen aufstehe, belüge ich mich. Mir fällt ein, dass auf dem Fensterbrett noch kalte Reste vom Abendessen stehen, schon leicht angetrocknet. Ich esse sie, nichts davon schmeckt mir wirklich gut. Ich kaue fast mechanisch. Ich spüre nichts. Kein Hunger. Kein Genuss. Aber während ich esse, ist der Kopf still.

06:00 Uhr – Der Morgen

Ich wache erschöpft auf, zerschlagen. Der Wecker klingelt. Ich schaffe den Tag nicht, es steht so viel an was ich erledigen muss. Ich fühle mich schuldig. Ekel. Selbstverachtung. Der Tag hat kaum begonnen, und ich bin schon gescheitert. Wieder einmal. Der Plan den ich machte? Schon in der Nacht gebrochen. Ich schwöre mir: Heute wird besser. Aber tief in mir weiß ich schon jetzt, dass das scheitern wird.

08:30 Uhr – Frühstück

Ich „frühstücke“. Heute ist es eh egal nach der Fresserei in der Nacht. Ich esse zwei Brötchen. Aber mein Körper verlangt mehr. Oder ist es mein Kopf? Dann eine 300 g Tafel Schokolade. Mein Gehirn bettelt: Noch ein bisschen. Nur ein bisschen. Ich verliere die Kontrolle. Wie so oft.

12:00 Uhr – Mittagessen? Nein: Fressanfall.

Ich habe keinen Hunger. Aber ich esse … nicht schon wieder, sondern noch immer. Alles, was ich finden kann. Tiefkühlgerichte, Chips, eine Packung Kekse. Ich verfresse den halben Wocheneinkauf. Die Vorräte, die für sieben Tage reichen sollten, sind bald weg. Ich schäme mich sogar vor mir selbst.

15:00 Uhr – Daueressen und emotionale Betäubung

Ich esse ohne Pause. Ich will etwas betäuben, das ich nicht mal richtig benennen kann. Schmerz? Einsamkeit? Angst? Erinnerungen? Sorgen?

17:00 Uhr – Manipulation und Rechtfertigung

Ich überlege was es zum Abendessen gibt. Der Vorrat ist fast leer. Ich überrede ein Familienmitglied, noch mal einkaufen zu gehen. Ich spiele den „harmlosen“ Hunger, mache einen Scherz daraus, rede es klein. Ich belüge mich selbst. „Ich brauche das heute“ Fadenscheinige Ausrede. Ich hasse mich dafür.

20:00 Uhr – Der Tiefpunkt

Ich esse bis zur Übelkeit. Mein Bauch ist gespannt wie ein Ballon, ich habe Schmerzen. Ich bekomme schlecht Luft. Ich schwitze. Mein Körper schreit nach Erlösung. Aber ich habe ihn längst überstimmt. Ich kann nicht mehr. Dann kommt das große Loch.

23:00 Uhr – Selbsthass und Verzweiflung

Ich sitze im Dunkeln. Auf dem Rechner läuft eine Serie, aber ich sehe nichts. Ich weine. Ich schäme mich. Was ist nur los mit mir? Ich fühle mich wie ein Versager. Hoffnungslos. Wertlos. Fett. Krank. Süchtig. Die Depression ist wie eine zweite Haut. Ich will nicht mehr fühlen. Ich will nur noch schlafen. Aber…

00:00 Uhr – Ein neuer Tag beginnt.

Ich liege wach im Bett. Der Magen schmerzt noch immer. Mein Herz auch. Ich nehme mir vor: Morgen esse ich nichts. Gar nichts. Ich faste. Ich halte durch. Ich schaffe das…


Nachwort

Ein Tag mit Essstörung ist kein „Schwächeanfall“. Es ist ein täglicher Kampf. Gegen den eigenen Körper. Gegen den eigenen Verstand. Gegen ein Monster, das man nicht sehen kann, dass aber immer da ist, immer auf der Lauer.

Wenn Du Dich in diesem Text wiedererkennst: Du bist nicht allein. Und Du bist kein Versager.
Esssucht ist eine ernsthafte psychische Erkrankung. Es gibt Hoffnung. Vielleicht nicht heute. Aber irgendwann. Und jeder Tag, an dem Du überlebst, zählt. Wenn Du magst, kannst du mich auch kontaktieren. Gemeinsam ist man stärker!

Gib nicht auf!
Sky


Artikel im Fediverse

meinwegraus.de
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Dies ist der Blog-Account von meinwegraus.de – meinem persönlichen Weg aus der Esssucht, chronischen Krankheiten und psychischen Belastungen.

Ich schreibe offen, ehrlich und manchmal mit einem Augenzwinkern über den wohl härtesten Kampf meines Lebens: 170 kg Körpergewicht zu verlieren – und das trotz psychischer Handicaps.

Themen wie Fasten, Essstörungen, Depression, Angst, Zuckerfreiheit, Intervallfasten und vieles mehr begleiten mich dabei. Und manchmal auch einfach nur über das, was mich gerade so beschäftigt, abseits dieser Themen.

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Fediverse-Reaktionen

2 Antworten

  1. Hallo Sky,

    danke für diesen eindringlichen Text. Ich bin selbst nicht betroffen, kenne aber Menschen, die es sind. Die Scham ist ja oft so groß, dass sie nicht darüber reden können und für mich sind die knappen und oft diffusen Eindrücke nur schwer nachvollziehbar. Ich bin ja schon froh, dass sie sich überhaupt getraut haben, darüber zu sprechen. Daher finde ich das hier wirklich großartig. So schlimm die Krankheit auch ist, durch dein Schreiben öffnest du einen Raum für Austausch und für Verständnis. Danke dafür und ganz viel Kraft und Stärke für deinen weiteren Weg.

    LG
    Anna

    • Sky Sky sagt:

      Hallo liebe Anna, vielen Dank für deine wirklich herzigen Worte und die guten Wünsche. <3
      Das ist unter anderem auch ein Grund, warum ich versuche, diesen Blog zu schreiben. Nicht nur, um über meine Gewichtsreduktion zu sprechen, sondern auch über das, was dahintersteckt, was sonst im Schatten liegt, worüber kaum jemand spricht oder sprechen mag.
      Ich weiß, dass es viele da draußen gibt, die diesen Kampf führen, manche noch unsichtbarer als ich, denn nicht immer geht diese Erkrankung mit sichtbarem Übergewicht einher. Danke Anna <3

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